Wenn Game Boy Color-Fans anfangen eigene Spiele zu entwickeln
Das am 16.10.2020 veröffentlichte Top-Down Action-Adventure Prodigal ist der Debut-Titel des texanischen Indie-Entwicklers Colorgrave. Colorgrave verspürt starke Zuneigung zum guten alten Game Boy Color, weswegen deren Spiele auch waschechte Liebesbriefe zu Nintendos kultigen Handheld-Gerät darstellen.
Prodigal ist natürlich stark von den Zelda-Teilen für den Game Boy Color inspiriert, bringt aber auch eigene Ideen mit sich, um den Kenner bei Laune zu halten. Was das Game im Detail zu bieten hat, erfahrt ihr im folgendem Review.
Die reumütige Heimkehr des verlorenen Sohns
Das Spiel versetzt uns in die Fantasy-Welt Lyrian. 10 Jahre vor Spielbeginn hat der Protagonist Ovan Graile 400 Geldmünzen von seinen Eltern gestohlen, um sich mit diesen Moneten klammheimlich in den warmen Süden abzusetzen. Das oftmals fröstelnde Wetter seiner Heimatstadt Vann's Point ging dem jungen Mann nämlich ordentlich gegen den Strich.
Doch nun treibt ihn ein Brief seines Großvaters Darrow „Pa“ Graile zurück nach Hause, denn er berichtet vom plötzlichen Tod von Ovans Eltern. Damit ist Ovans schlechtes Gewissen endgültig geweckt. In Vann's Point angekommen erhält Ovan gemischte Reaktionen. Sein Großvater und diverse Kindheitsfreunde freuen sich, dass Ovan wieder da ist, doch andere Einwohner betrachten ihn als Dieb und Spion aus dem Süden. Ovan ist sich sehr wohl bewusst, dass er scheiße gebaut hat, und will sich einen guten Ruf erarbeiten. Zu diesem Zweck beschließt er Bolivar, dem freundlichen Azubi seines Großvaters, zur Hand gehen. Dieser arbeitet an einem coolen neuen Schwert, für dass er jedoch einige besonders seltene Metalle und Bruchstücke benötigt, welche an schwer zugänglichen Orten in der Umgebung von Vann's Point verborgen liegen. Da Ovan sowieso das Handwerk des Minenarbeiters aufnehmen wollte, kann er nebenbei ja auch gleich Bolivars Wunschliste abarbeiten. Doch das ist freilich leichter gesagt als getan, da in den Höhlen, Grüften und Ruinen von Vann's Point jede Menge Monster und Fallen lauern.
Wie die Handlung weiter verläuft, müsst ihr jetzt freilich selbst herausfinden. Natürlich gibt es so einige Wendungen, welche die Anfangs sehr bodenständige Handlung in ein episches Abenteuer umwandeln. Nebenbei gibt es jede Menge Alltags-Ereignisse, die Ovan dabei helfen den inzwischen entfremdeten Einwohnern seiner Heimatstadt wieder näherzukommen. Bezogen auf die weiblichen Bewohner ergibt sich hierbei sogar die Möglichkeit eine Beziehung aufzubauen, welche in einer Heirat gipfeln kann. Man kann sogar zwei anderen Junggesellen dabei helfen unter die Haube zu kommen. Diese Heirats-Sidequests haben dann auch Auswirkungen aufs Ende, was entsprechenden Wiederspielwert einbringt.
Doch auch das kratzt nur an der Oberfläche von Prodigal. Wer aufmerksam spielt, wird jede Menge Sagengut-Texte und Verweise auf wichtige Personen, Orte und Ereignisse entdecken. Hierdurch wird eine komplexe Welt aufgebaut, wie man sie sonst nur von einschlägigen CRPGs gewohnt ist.
Tatsächlich geht das Spiel erst richtig los, sobald man die ursprüngliche Hauptquest abgeschlossen hat. Danach kann man das Spiel nämlich als Open End weiterzocken, neue Questlinien finden und ein umfangreicheres Ende erlangen. Und dabei merkt man deutlich, dass Prodigal auf eine komplexere Überhandlung hinarbeitet, welche in Fortsetzungen weitergeführt wird. In Zuge dessen ist es jedoch ärgerlich, dass Prodigal keinen Codex anbietet, wo man Sagengut-Texte und sonstiges Wissenswerte nachlesen kann. Bei der Masse an Sagengut und Charakteren wäre ein Codex wirklich angebracht gewesen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob es wirklich notwendig war für Ovan das Klischee des stummen Protagonisten zu nutzen. Bei einem Zelda-Spiel mit rudimentärer Handlung, mag das ja in Ordnung sein, aber bei einer komplexeren Spielwelt wie Lyrian passt das nicht mehr so gut. Wobei ich aber dazu sagen muss, dass mich dieses Klischee in Prodigal nicht wirklich gestört hat
Unterm Strich ist es absolut faszinierend und eindrucksvoll, was die Entwickler so alles in ihre Zelda-Hommage reingepackt haben. Ich werde mir jedenfalls definitiv die Fortsetzung „Veritus“ zulegen, um zu erfahren, wie es mit Ovan und Lyrian weitergeht.
Das Paradies für Entdecker
Wer einmal ein klassisches Top-Down-Zelda gespielt habt, wird wissen was ihn hier erwartet. Man erkundet die Spielwelt aus der Vogelperspektive, verdrescht Monster in Echtzeit, hantiert mit Werkzeugen, um neue Wege zu erschließen und löst Rätsel.
Die Controller-Steuerung (Tastatur hab ich nicht genutzt) arbeitet dabei genauso simpel wie im großen Vorbild. Das D-Pad dient für die Bewegung der Spielfigur. Mit der Start-Taste ruft man das Inventar auf, wo sämtliche gefundene Gegenstände aufgelistet werden und wo man Unterpunkte vorfindet. Mit letzteren kann man die Karte der Vann's Point-Oberwelt aufrufen oder speichern. Das Game bietet übrigens drei separate Speicherslots, eben so wie in der guten alten Zeit.
Dann wären da die Buttons. Mit dem unteren A-Button schwingt man die Spitzhacke, die als Hauptwaffe fungiert, und die anderen drei Buttons dienen für die Werkzeuge. Tatsächlich erhält man in Prodigal nur drei Werkzeuge, weswegen es hier auch nicht notwendig ist umzurüsten. Und keine Bange, die Funktionen der drei Werkzeuge werden rigoros genutzt und finden kreative Anwendungen, zur Lösung der zahlreichen Puzzles. Mit der Dread Hand kann man sich zum jeweiligen Eingang des Screens zurückteleportieren, mit dem Lariat-Greifhaken kann man sich an bestimmten Objekten herüberziehen oder eben leichte Objekte und Gegner zu sich heranziehen. Mit dem Rust Knuckle kann man Felsbrocken wegboxen oder brüchige Wände einreißen. Im großen Open End-Abschnitt kann man obendrein Upgrades finden, welche weitere Anwendungsmöglichkeiten für die Werkzeuge offenbaren.
Neben der Spitzhacke kann man noch Ausrüstung in Form von Schuhen und Ringen erlangen. Diese verbessern Dinge wie Angriffskraft und Verteidigung oder schalten Sonderfähigkeiten wie Rennen frei. Natürlich kann man nur ein Paar Schuhe und nur einen Ring tragen, weswegen man zum umrüsten den jeweiligen Shop besuchen muss.
Darüber hinaus kann man auch Buff-Gegenstände einkaufen. Das coole an den Buffs ist, dass sie dauerhaft bestehen bleiben, solange man nicht KO geht. Verliert man jedoch sämtliche Lebensenergie gehen die Buffs verloren, und man muss sich neue kaufen. Man hat übrigens nur vier Slots für Buffs. Da es jedoch drei Shops mit jeweils drei Buff-Gegenständen gibt, muss man sich entscheiden, was einem wichtiger ist. Immunität vor Fallschaden? Ein Extrapolster an Lebensenergie? Oder zusätzliche Angriffskraft? Die Entscheidung liegt bei euch. Das notwendige Geld für die Buffs und andere Dinge bekommt ihr übrigens von erledigten Gegnern, aus Schatztruhen oder aus zerbröselten Felsblöcken. Letztere ersetzen hier die Büsche aus Zelda. Tatsächlich ist es durch die Felsblöcke sehr einfach Geldmünzen zu grinden. Wem das zu langweilig ist, kann jedoch auch ein paar Casino-Minigames zocken oder bei der verrückten Wissenschaftlerin Siska Zielscheiben für etwas Taschengeld zerdeppern.
Überhaupt legt Prodigal großen Wert auf den Erkundungsdrang des Spielers. Zur Verlängerung des Lebensbalkens gilt es z.B. vier Einheiten von Heart-Ore aufzutreiben. Dann gibt es noch zahlreiche optionale Dialogevents mit den NPCs der Spielwelt, welche dabei helfen die Beziehungen zu eben diesen zu verbessern. Hierdurch offenbart sich auch mal eine Sidequest, welche die einzige Möglichkeit darstellen an Schuhe oder Upgrades heranzukommen. Die NPCs sind dabei an einen Tag- und Nachtwechsel gebunden. Sie befinden sich also nicht immer an der selben Stelle und manche Events triggern dann auch nur zu bestimmten Tages- bzw. Nachtzeiten. Hierdurch fühlt man sich recht bald als Teil einer Kommune, und nicht nur als herumstreunender Held.
Hat man die Hauptquest abgeschlossen, kann man das Game als Open End weiterzocken. Zu diesem Zeitpunkt erhält man Zugriff auf viele optionale Dungeons, welche zahlreiche abwechslungsreiche Herausforderungen zu bieten haben.
Da reicht die Bandbreite von wegbrechenden Platformen, Glatteis, Schalterrätseln, Verschiebepuzzles, Geheimräumen, Kampfarena-Events oder sogar Stealth-Passagen. Und natürlich gilt es auch Bossgegner zu überwinden. Letztere kann man sogar in Bossrush-Turnieren herausfordern.
Tatsächlich können einige Dungeon-Gimmicks auch mal erschöpfend werden. Ich erinnere mich gut an den Geisterhaus-Dungeon. In einem der letzten Puzzle-Räume hatte ich Probleme voranzukommen. Auf einmal tauchte plötzlich ohne Vorwarnung ein Geist auf der mich bei Körperkontakt umgehend tötete. Danach durfte ich weite Teile des Dungeons erneut durchlaufen. Man kann es auch übertreiben.
Es gibt in Prodigal also viel zu tun und zu erleben. Die Frage ist nur, ob man auch alles entdecken wird. Einige Dungeons, Minigames und Geheimnisse liegen nämlich gut versteckt, und können leicht übersehen werden, wenn man nicht übergründlich vorgeht. Für die Hauptquest-Aufgaben bekommt man immerhin noch Tipps von der örtlichen Bibliothekarin, aber bei den optionalen Sachen kann man wirklich verdammt viel verpassen. Tatsächlich wurde gut zwei Drittel des Spielinhalts in den Open End-Abschnitt gepackt – eine gewagte Designentscheidung.
Wer möglichst viel vom Spiel sehen will, kann gut und gerne 20+ Spielstunden für Prodigal einplanen. Und wem das immer noch nicht ausreicht, bekommt hier obendrein eine Extraladung Wiederspielwert. Es gibt Entscheidungen die Einfluss aufs verlängerte Ende nehmen. Man kann 10 verschiedene Mädels daten und es gibt spezifische Game+ Herausforderungen, wie einen Iron Man-Modus. Der Inhalt des Spiels ist definitiv beeindruckend.
Grafik und Sound
Prodigal leistet einen sehr guten Job den Grafikstil eines Top-Down-Abenteuers für den GBC zu emulieren. Die Sprites und Farbpaletten sehen überraschend authentisch aus, und werden Game Boy-Nostalgikern einiges an Freude bereiten. Abgesehen davon bietet Prodigal einen tollen Artstil. Die Charakter-Artworks, welche grundsätzlich in den Textboxen verwendet werden, versprühen unglaublich viel Charme und werten das Spiel gehörig auf. Obendrein gibt es einige echte Highlights bei den Spritegrafiken. Die Göttin Colorgrave ist jedenfalls ein echter Hingucker.^^
Es ist auch sehr cool, dass ein Tag- und Nachtwechsel und Wetterwechsel integriert wurden. Hier kann es auch mal passieren, dass man am nächsten Ingame-Tag plötzlich Regenwetter oder Schneefall vorgesetzt bekommt. Letzterer offenbart jedoch auch einen Schwachpunkt, denn die Grafikengine scheint wohl doch etwas überfordert mit all diesen Spielereien zu sein. Zumindest bei Schneefall macht sich in der Umgebung von Vann's Point doch ein spürbarer Einbruch der Geschwindigkeit bemerkbar. Auch im Waldgebiet kommt es zu Slowdowns. Besonders übel wird es dann, wenn man sich bei Schneefall ins Waldgebiet begibt. Da es auf der Vann's Point-Oberweltkarte jedoch keine Kämpfe oder Geschicklichkeitspassagen gibt, sind die Slowdowns glücklicherweise nichts spielentscheidendes.
Auch der Soundtrack ist toll gelungen. Die Melodien sind schön anzuhören und wecken nostalgische Gefühle an die gute alte Zeit. Die Titelmelodie erinnert vielleicht einen Tick zu sehr an Zelda, was jetzt aber auch nichts schlechtes sein muss. Ein Highlight ist der rockige Song für die wahre Form des finalen Bossgegners. Der war noch mal ne coole Überraschung zum Ende des Spiels.
Die Soundeffekte sind ebenfalls gefällig. Eine Sprachausgabe gibt es nicht, sollte man von einer GBC-Hommage aber auch nicht ernsthaft erwarten. Das Spiel steht nur auf englisch zur Verfügung. Entsprechende Sprachkenntnisse sind also von Vorteil.
Pro und Kontra:
Pro:
- gute Story mit viel Sagengut und unterhaltsamen Dating-Elementen
- gelungene Spielbarkeit nach bewährtem Zelda-Muster
- schöne audiovisuelle Präsentation im Stil des Game Boy Color
- großer Umfang und hoher Wiederspielwert
Kontra:
- viel Spielinhalt ist rein optional und kann leicht verpasst oder übersehen werden
- einige Slowdown-Probleme auf der Oberwelt
- einige der späteren Dungeons können recht nervige und erschöpfende Mechaniken und Puzzles auffahren
DER Geheimtipp für Fans von Old-School Zelda-Abenteuern
Prodigal ist eine echt positive Überraschung. Das Top-Down Action-Adventure überzeugt nicht nur mit einer liebevollen audiovisuellen Präsentation im feinsten Game Boy Color-Stil, sondern auch mit einem launigen Gameplay. Letzteres setzt einen stärkeren Fokus auf Puzzle und Fallen, als das Vorbild. Obendrein gibt es coole Features wie einen Tag- und Nachtwechsel, Dating- und Heiratsmechaniken sowie jede Menge optionalen Inhalt, welcher zum ausgiebigen Erkunden einlädt.
Die motivierende Handlung mit haufenweise Sagengut und Charakteren tut ihr übriges, um die Faszination am Spiel zu festigen.
Die schwächelnde Technik, welche auf der Oberwelt für Slowdowns sorgt, sowie nervige Mechaniken und Puzzles späterer Dungeons trüben jedoch den Gesamteindruck. Trotzdem ein waschechter Geheimtipp, den sich jeder Retro-Zelda-Fan unbedingt genauer anschauen sollte.
Endwertung:
Punktvergabe von 1 (schlecht) bis 10 (spitze)
Grafik: 8
Sound: 8-8,5
Steuerung: 8,5
Umfang: 9,5
Story: 9
Spielspaß: 8
Gesamtwertung: 8,3
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